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Richtet nicht!

Meine Mutter wurde einmal zur Schöffin berufen. Für mich hatte schon das Wort einen guten Klang. Die Idee, als juristischer Laie zur in einem Strafprozess mitwirken und mit-urteilen zu können, fand und finde ich attraktiv. Und schon deswegen gut, weil es Menschen mit dem Recht und der Rechtsprechung vertraut macht, in sie vertrauen lässt.

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Aus diesem Grund war ich hocherfreut, als eine Bekannte mich vor einigen Jahren fragte, ob ich mich für das Schöffenamt bereit erklären würde. „Natürlich“, habe ich gesagt, „von Herzen gern“. Auch deswegen, weil mir juristische Fragestellungen Spaß machen: einen Sachverhalt hin- und herzuwenden, viele, möglichst alle Aspekte in den Blick zu nehmen und zu berücksichtigen, dem Ganzen noch einmal eine andere Wendung zu geben. Um es kurz zu machen: Schöffin zu sein – das hätte mir gefallen.

Schnell aber habe ich eine Absage bekommen. Geistliche, so heißt es, dürfen nicht Schöffen werden. Ganz gleich, ob Imam, Rabbiner, Priester oder Pfarrerin. Warum eigentlich, habe ich mir gedacht? Hat es mit der deutschen Geschichte zu tun? Mit der in Teilen unheilvollen Verquickung von Religion und Staat? Oder hat das Verbot eine religiöse, womöglich biblische Wurzel? Führt es sich vielleicht auf eine Aussage von Jesus zurück? In der Feldrede, wie sie der Evangelist Lukas überliefert, heißt es: „Richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet“. (Lk 6,37)

„Richtet nicht, so werdet auch ihr nicht gerichtet“. Ich finde, dies ist eine unmögliche Forderung. Juristisch ergibt sie überhaupt gar keinen Sinn. Der Staat ist auf ein funktionierendes Rechtswesen angewiesen. Und selbstverständlich können und sollen religiöse Menschen, damit auch Christen, das Recht ausüben.

„Richtet nicht, so werdet auch ihr nicht gerichtet“. Eine unmögliche Forderung. Denn jeder Mensch richtet über andere. Unentwegt. Wenn ich mich beobachte, merke ich, wie schnell ich darin bin, ein Urteil zu fällen: Menschen mit so einer Handschrift sind immer so und so. Oder: „Da tut er immer harmlos und fährt dann so eine Nummer. Wahrscheinlich hat er es nötig.“

Nun sind solche Festlegungen vergleichsweise harmlos. Sie spielen sich in meinem Kopf ab. Ich weiß, sie helfen manches einzuordnen. Manchmal schaffe ich es sogar, freundlich zu urteilen, voll Verständnis für die kleinen Schwächen, die jeder hat. Da kann ich entschuldigen, wenn jemand oft zu spät kommt, auch wenn ich es eigentlich nicht leiden kann, warten zu müssen. Da kann ich es sogar ertragen, dass ich jemanden regelmäßig zweimal bitten muss, weil dieser Mensch hier eine kleine Schwäche hat und eben des doppelten Anschubs bedarf.

Nur – viele meiner Urteile sind nicht positiv. Wenn mich jemand kränkt oder zu lange ärgert, dann ist es mit der Milde vorbei. Dann wird es unbarmherzig und ich beginne, kleinlich alle Fehler des anderen innerlich zu notieren. Es ist ja klar, wer Fehler sucht, findet auch welche. Viele sogar. Da ist hier etwas schlampig erledigt und das funktioniert nicht. Obwohl ich es schon tausendmal angemahnt habe. Die allermeisten Menschen sind weit entfernt davon, perfekt zu sein. Manchmal sind sie sogar weit entfernt davon, meinen Ansprüchen zu genügen. Und dann ist mein Urteil fest.

„Richtet nicht“. Für mich eine ganz schwierige Handlungsanweisung von Jesus. Ein Anspruch, dem ich ganz und gar nicht entspreche. Bei aller guter Absicht. Ich würde sie gern beiseitelegen. Wäre da nicht ein weiterer Gedanke, der mich noch einmal nachdenken lässt. Eine Frage, die Jesus stellt: „Was siehst du den Splitter in deines Bruder Auge, aber den Balken im eigenen Auge nimmst du nicht wahr? Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, ich will dir den Splitter aus dem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge?“

Über andere Menschen zu urteilen – das macht manchmal unbarmherzig. Viel öfter noch macht es einfach selbstgerecht. Selbstgefällig. Blind für die eigene Schwäche. Für die eigenen Fehler. Dafür, dass auch ich nicht immer eine Heldin bin, was Pünktlichkeit angeht. Wie oft muss ich Termine verschieben, weil ich meine Tage zu optimistisch plane. Wie oft sage ich etwas zu, was ich nicht einhalten kann.

Deswegen: Zu richten, zu urteilen – das werde ich wohl nicht los. Aber diese Grenze, erst den Balken bei mir zu sehen – die ist mir hilfreich. Anderen womöglich auch.

Pastorin Andrea Wagner-Pinggéra