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Erdbeeren aus Nachbars Garten

Als ich 5 Jahre alt war, zog ich mit meinen Eltern in ein wunderschönes kleines Dorf namens Niederurff. Dort hatte ich die freundlichste Nachbarin, die man sich nur wünschen kann. Frau K., damals um die 70 Jahre alt, hatte immer ein liebes Wort für mich, immer eine offene Tür, Süßigkeiten zu jeder Gelegenheit, ein Wurstbrot mit Tee am Abend. Eines Nachmittags beschloss ich trotz allem, zusammen mit einer Freundin einen ganzen Schwung gerade herrlich reif gewordener Erdbeeren aus Frau K.s Garten zu stehlen. Doch wir wurden gesehen! Fassungslos stürzte Frau K. mit wedelndem Geschirrtuch aus dem Haus und schrie uns hinterher – ich fühle es noch, als wäre es gestern gewesen. In den darauffolgenden Stunden zerrissen mich Scham und Angst, wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte. Was würden meine Eltern sagen, wenn sie das erführen! Aber auch, Frau K. noch einmal unter die Augen zu treten, schien mir unmöglich.

(c) pxhere

Am nächsten Vormittag kam ich zurück vom Einkauf – und plötzlich tauchte oben am Weg Frau K. auf und ging mir entgegen. Ich hätte im Boden versinken wollen, doch es gab kein Entrinnen. Als wir auf gleiche Höhe kamen, sah mich Frau K. an – nein: sie lächelte mich an. Dann überreichte sie mir eine riesige Schüssel, über und über gefüllt mit Erdbeeren. „Die musst du doch nicht stehlen,“ sagte sie schlicht, und ich erlebte diesen unvergesslichen Moment der Erkenntnis, der mir seither als der Inbegriff des Christlichen gilt.

Anne C. Weihe, Lazarus Haus Berlin