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Machen wir das Beste draus - wenn Musiktherapie neue Wege gehen muss

„Ich lade Euch heute zu einer Reise ein, eine Klangreise. Richtiges Verreisen geht ja gerade nicht.“ Paul Bratfisch, Musiktherapeut der Hoffnungstaler Stiftung Lobetal, erzählt die Geschichte von einem Spaziergang vorbei an einem verlassenen Bahnsteig, mit blühenden Blumen zwischen den Gleisen, mit kleinen Bienchen, einer streunenden Katze, die durch die Gräser streift und einem blauen Himmel mit Schäfchenwolken. Und passend dazu das Lied: „Über den Wolken.“ Ein Wunschlied aus den Lobetaler Wohngruppen des Bereichs Teilhabe, wie ich später erfahre. An seiner Seite Pam Kappis, ebenfalls Musiktherapeutin. Sie untermalt die Geschichte mit passenden Klängen. Dabei kommen Cajon, eine Stuhltrommel, und die Klangschale zum Einsatz. Das Lied singen sie im Duett. Sie spielt die Gitarre, Paul Bratfisch sitzt am Flügel.

Nur das Publikum in der Lobetaler Kirche fehlt. Die Bankreihen sind leer, bis auf zwei Bewohner, die sich hereingeschlichen und ganz hinten platziert haben. Viel Technik ist aufgebaut. Eine Kamera, eine Tonanlage, Mikros, ein Smartphone auf Stativ zeichnet die Session auf. Musiktherapie in den Häusern geht gerade nicht.

Musiktherapie geht gerade nicht

Sie erzählen: „Normalerweise bieten wir unsere Musiktherapie in Einzel- und Gruppentherapien an.“ Einzeln für Bewohnerinnen und Bewohner mit starken Kontakt – und Beziehungsstörungen sowie Menschen, die das Bett nicht verlassen können. Hier setzen Pam und Paul verschiedene Klangschalen oder das Körpermonochord ein. Dieses lindert Schmerzen, erzeugt eine Tiefenentspannung und fördert die Körperwahrnehmung.

In den Gruppensettings nehmen sie die Bewohnerinnen und Bewohner mit auf eine Traum- bzw. Klangreise. Sie benutzen verschiedene, auch selbst gebastelte Orff’sche Instrumente. Es wird viel gesungen.

Nun können seit der Corona-Krise die Treffen - ob in der Gruppe oder einzeln - nicht mehr stattfinden. Pam und Paul überlegten, wie sie ihre Klienten dennoch erreichen und in der Situation begleiten können. Dann kam die Idee: „Wir machen eine tägliche Musikshow zum Mitmachen und übertragen diese live in Häuser.“

Bei der Suche nach einem Raum wurde man schnell fündig. Dank der Unterstützung durch die Lobetaler Kirchengemeinde kann die Kirche genutzt werden. Dort gibt es die Technik für Live-Streams, werden doch bereits seit vielen Jahren die Sonntagsgottesdienste und Andachten in Häuser und Einrichtungen der Ortschaft Lobetal übertragen.

Das Programm kommt gut an

Pam Kappis berichtet: „Die Bewohnerinnen und Bewohner in den Einrichtungen der Teilhabe können diese neuartige Situation oft schwer verstehen. Sie fragen: Warum darf mich niemand mehr umarmen? Es fehlt die persönliche Nähe. Mit unserer Musik können wir den Ängsten und Sorgen etwas Fröhliches, etwas Leichtes entgegensetzen.“ Die Rückmeldungen geben den beiden recht. Sie erzählen: „Täglich flattern Wunschzettel in unseren Briefkasten, oder es erwarten uns aufgeregte Bewohnerinnen und Bewohner direkt vor der Kirche und werfen uns ihre Wunschzettel zu. Es kam sogar schon vor, dass diese an der Scheibe des Autos hingen.“

Das Live-Programm ist vielfältig. Gesungen werden Volks- und Kinderlieder, Schlager, eigene Songs, oder sie laden zu einer Klangreise ein. „Wir regen auch aus der Ferne zum Musizieren an. Dazu verteilen wir Instrumente an die Bewohnerinnen und Bewohner und unterstützen vor den Bildschirmen die Kreativität. Wir können mit unserem Live-Stream dafür sorgen, dass mindestens eine Stunde am Tag mal nicht an Corona gedacht wird“, freut sich Paul Bratfisch. Bei gutem Wetter sind die beiden auch singend vor den verschiedenen Häusern zu sehen.

Kleine Wunder von Glück und Lächeln

Doch sie wünschen sich, dass sie bald wieder intensiv therapeutisch arbeiten können. Das fehlt den beiden und denen, die sie begleiten. „Durch die Musiktherapie können wir noch mehr für die Menschen erreichen.“ Beide könnten stundenlang davon erzählen, was Musik alles bewirkt. Davon, dass innere Befindlichkeiten mitgeteilt und auch miteinander geteilt werden, dass sämtliche Belastungen des Alltags und die damit verbundenen Emotionen über die Musik ausgedrückt und dadurch verarbeitet werden können, dass persönliche Ressourcen und das Selbstbewusstsein gestärkt werden.

Pam weiß, dass die Musiktherapie auch und gerade Menschen erreicht, die auf Sprache nicht reagieren können. Paul Bratfisch erinnert sich, wie eine Bewohnerin begonnen hat mit den Augenlidern zu kommunizieren. Gerade bei besonders unruhigen Bewohnern konnten Pam und Paul eine helfende Entspannung erzeugen, mitunter sogar ein seltenes Lächeln und Glückstränen.

 

Wir sehen uns alle wieder

Zurück zur Musikshow: Nur noch wenige Minuten bleiben. Alle Wunschlieder für heute sind gesungen. Zum Schluss darf das Lied von Silbermond „Machen wir das Beste draus“ nicht fehlen.

Auch wenn um uns grade alles wackelt
Und es Abstand braucht
Rücken wir die Herzen eng zusammen
Machen wir das Beste draus

Auch wenn die Zeit uns grad fordert 
Gibt es Hoffnung noch
Dass der Tag kommt, an dem all das vorbei ist
Und die Welt macht wieder auf

Und wir sehen uns alle wieder
Und wir sehen uns alle wieder

Keine Frage: Wir sehen uns alle wieder, immer montags bis freitags um 10.15 Uhr im Lobetaler Kanal. Und dann vielleicht mit den Songs: Hoch auf dem gelben Wagen, alle Vögel sind schon da oder dem Fliegerlied. Überraschung garantiert.