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Sterben lernen

Gestern hatte unser lieber Freund Geburtstag, der letztes Jahr gestorben ist. Vielleicht hat es mich deshalb so beschäftigt, als ich am Abend zuvor las, dass die Schwäne am schönsten singen, wenn sie sterben müssen.

© Jeremy Anderegg

Das Buch, in dem ich das las, handelt vom Tod des griechischen Philosophen Sokrates, der im 5. Jh. v. Chr. gelebt hat. Sokrates musste aus dem mit Gift gefüllten Schierlingsbecher trinken, weil drei Männer ihn wegen Gottlosigkeit angeklagt hatten. Seine Schüler, die dies miterlebt hatten, berichteten später, er sei dem Tod nicht nur gefasst, sondern gelassen, geradezu heiter entgegengegangen. Er habe keine Angst gehabt, weil er tief davon überzeugt gewesen sei, dass der Tod die Pforte zum reinen, geistigen Leben ist – ein Leben im Kreise der Götter und aller Menschen, die vor ihm gegangen sind (so viel zum Vorwurf der Gottlosigkeit).

Auch das Philosophieren wird von Sokrates als ein Sterben begriffen. Ich habe sehr lange nicht verstanden, was damit gemeint sein soll. Gestern aber ging mir auf, dass es wohl um das Entfalten des geistigen Lebens beim Philosophieren geht. Je mehr ich geistvoll lebe (gewiss muss es gar kein Philosophieren im engeren Sinne sein), desto mehr werde ich schon Teil der himmlischen Welt, die ich nach meinem Tod beschreite.

Mir gefällt der Gedanke, dass ich mit unserem verstorbenen Freund eine unsichtbare Welt teilen könnte – jederzeit, wenn ich innehalte und mein geistiges Auge öffne.

Anne C. Weihe, Lazarus Haus Berlin