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Im Gedenken: Stolpersteine in Lobetal verlegt

Fritz liebte Männer. 
Und wurde dafür gehängt.
Hans, Ernst und Friedrich auch.

Angeklagt der „widernatürlichen Unzucht“ wurden diese vier Männer aus Lobetal unter Anwendung des Paragrafen 175 brutal aus ihren Lebensbezügen gerissen. Sie wurden verhaftet, von einen NS-Sondergericht zum Tode verurteilt und in den sogenannten Blutnächten am 7. und 8. September 1943 in der Zuchtanstalt Berlin-Plötzensee kaltblütig hingerichtet. 

80 Jahre später versammelten sich engagierte Jugendliche der Lobetaler Kirchengemeinde, interessierte Einwohner und Einwohnerinnen des Ortes, Pastorinnen, Theologen und Mitarbeitende der Hoffnungstaler Stiftung vor der Lobetaler Christusstatue, um dem Vergessen entgegenzutreten, zu erinnern, zu mahnen. Sie einte das Gedenken an die vier Männer, für die am 7. September 2023 vier Stolpersteine auf dem Gelände der Hoffnungstaler Stiftung Lobetal verlegt wurden.

Nicht leise sein

»Da wohnt ein Sehnen in uns.« Katja Möhlhenrich-Krüger (Violine) und Kantor Daniel Pienkny (Gitarre) setzten mit diesem Lied den ersten musikalischen Akzent. Weitere sollten folgen. Geschäftsführer Martin Wulff begrüßte die Gäste mit dem Bodelschwingh-Zitat: “Kein Mensch geht über diese Erde, den Gott nicht liebt“. Wulff verknüpfte in seiner Ansprache das private Schicksal der vier Männer mit dem widerständigen Engagement des Lobetaler Anstaltsleiters Paul Braune in den grausamen Zeiten der NS-Herrschaft. Bezogen auf das Jetzt sagte er: „Wir dürfen nicht leise sein, wenn es um die Belange von Menschen geht, die eine andere sexuelle Orientierung haben. Wenn wir leise sind, dann schaffen wir Platz und Raum für Diskriminierung, Ausgrenzung und Verfolgung.“

 

Grußwort von Martin Wulff, Geschäftsführer der Hoffnungstaler Stiftung Lobetal

 

Nicht nachlassen bei der Erinnerung

Die Vizepräsidentin des Landtages Brandenburg, Barbara Richstein, schlug in Ihrer Rede einen geschichtlichen Bogen von der ersten Stolpersteinverlegung durch Gunther Demnig im Jahr 1996 bis zum großen Jubiläum in diesem Mai, in dem der 100.000. Stein dieses weltweit größten Mahnmals verlegt worden ist. Sie erwähnte die Streichung von Homosexualität als Krankheit aus dem Diagnoseschlüssel der WHO am 17. Mai 1990 und die erst 1994 folgende Streichung des Paragrafen 175 aus dem bundesdeutschen Strafgesetzbuch. 

In der DDR fand dieser Schritt bereits im Jahr 1988 statt. Die Politikerin war angetan von der Mitwirkung der Jugendlichen der jungen Gemeinde an der Stolpersteinverlegung. Dies „ist ein gutes Zeichen, denn auch in der aktuellen Zeit und jungen Generation ist Homophobie noch vorhanden, so dass wir nicht nachlassen dürfen bei der Erinnerung an die geschehenen Gräueltaten, der Aufklärung und der Weitergabe an die kommende Generation.“

Grußwort von Barbara Richstein, Vizepräsidentin des Landtages Brandenburg

 

Ein zäher Prozess hin zur Akzeptanz

Der Text von Prof. Dr. Michael Schwartz vom Institut für Zeitgeschichte (er konnte wegen Krankheit selbst nicht teilnehmen) wurde von Jan Cantow, dem Leiter der Stabsstelle Geschichte und Erinnerung der Hoffnungstaler Stiftung Lobetal, verlesen. Der Beitrag begann mit einem weit gefasstem historischen Zugang vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, um dann argumentativ und statistisch detailliert auf die Verfolgung und Vernichtung Homosexueller während der NS-Diktatur einzugehen. Im Kaiserreich seien bis 1918 pro Jahr einige hundert Menschen zu Gefängnisstrafen verurteilt worden. Im Vergleich dazu die Zahlen während der zwölf Jahre der NS-Diktatur: „Dort wurden rund 100.000 Männer Opfer von Ermittlungen, die Hälfte – 50.000 – wurde rechtskräftig verurteilt.“

Einen rechtsgeschichtlichen Blick auf die Strafverfolgung Homosexueller begann er mit der harten Kriminalisierung ab den 1850er Jahren in Preußen, die sich gegen mildere Strafgesetze, z.B. in Bayern oder Hannover, durchsetzte und damit ab 1870 den Grundstein für die Einführung des Paragrafen 175 legte. Hardliner wie z.B. der Exponent des preußischen Evangelischen Oberkirchenrates Heinrich von Mühler argumentierten, dass es im Interesse der öffentlichen Moral unstatthaft sei, homosexuelle Handlungen unbestraft zu lassen. Das Rechtsbewusstsein im Volke beurteilte diese Handlungen nicht bloß als Laster, sondern als Verbrechen. Dem folgend berief sich das Bundesverfassungsgericht noch im Jahr 1957 auf die sittlichen Grundüberzeugungen des Volkes und beschloss die Beibehaltung des NS-Homosexuellenstrafrechts. Abschließend fokussierte Prof. Dr. Schwartz auf die Liberalisierung der strafrechtlichen Diskriminierung und schrieb: „Es war ein zäher und konfliktreicher Prozess, dass zumindest die protestantischen Kirchen ab den 1960er Jahren schrittweise dazu gelangten, von der Unterstützung homophoben Strafrechts und von der ethischen Missbilligung zu mitleidiger Begleitung und Toleranz und dann zu echter Akzeptanz überzugehen - bis hin zur kirchlichen Eheschließung.“

Text von Prof. Dr. Michael Schwartz, Institut für Zeitgeschichte

 

Bitte um Vergebung

Die theologische Geschäftsführerin Andrea Wagner-Pinggéra näherte sich in ihrer Rede vor dem Hintergrund der vier Einzelschicksale dem Thema Homosexualität aus theologischer Sicht. Sie verknüpfte ihre fachlichen Positionen mit ihrem persönlichen Werdegang in der Kirche und Ihrem privaten Erleben. Explizit erwähnte sie das Thema des Umgangs mit homosexuellen Pfarrerinnen und Pfarrern und formulierte ihre auch heute noch aktuelle Einschätzung, dass es sich zwar um eine im Kern theologische Frage handle, diese jedoch nicht mit der Bibel zu lösen sei, zumindest nicht mit einzelnen Bibelstellen, die man dabei zu Rate ziehen könne.  Sie ging ein auf die Geschichte und Herkunft des Themas Homosexualität im Kirchenkontext. Die Ehe diente ursprünglich der Fortpflanzung und dem Aufziehen des Nachwuchses, wandelte sich später hin zur romantischen Liebe als Basis einer Lebensgemeinschaft, die auf gegenseitiger Neigung beruht. Die theologische Geschäftsführerin setzte einen besonderen Fokus auf die Unterscheidung der Termini »Identität« versus »Orientierung«. Sexualität sei »Teil des Personenkerns«, der Identität. Sie wird zur »eigenen Natur, die sich willentlich nicht ändern lässt«.  Den Kreis Ihrer Ausführungen schloss die Pastorin, indem sie auf Jesus einging, der sich zum Thema Homosexualität nicht geäußert hätte: „Hingegen hat er viel zu sagen zu Liebe, zum Umgang miteinander und zur Gerechtigkeit.“ Diese Haltung führt direkt zur Bitte um Vergebung: „Weil aber Menschen mit homosexueller Identität gerade im letzten Jahrhundert so viel Unrecht getan wurde, kann ich dies nur damit verbinden, um Vergebung zu bitten. Bei den Opfern damals und bei denjenigen, die heute unter Unverständnis, Spott, Missachtung und Gewalt zu leiden haben.“

Rede von Andrea Wagner-Pinggéra, theologische Geschäftsführerin der Hoffnungstaler Stiftung Lobetal

 

Liebe in Vielfalt tut der Seele einer ganzen Gesellschaft gut

Den dritten Beitrag präsentierte Dr. Christina-Maria Bammel, Pröbstin der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. In Ihrer engagierten Rede blickte sie vor allem auf die jüngere Geschichte des Umgangs mit Homosexualität in den evangelischen Kirchen und  “das Erstreiten von gleichen Rechten in der Gemeinschaft Jesu Christi.“ Sie sprach von Schuld der Institution Kirche an systematischer Diskriminierung und dem späten Bekenntnis zu dieser. Und von mühsamen und schwer erstrittenen Schritten und der Erinnerung an den Erkenntnisweg ihrer Kirche, konkretisiert in drei Punkten: “Erstens, wir haben einen Auftrag zur Wahrheit. Zu dieser Wahrheit gehört das Hinsehen auf Verwundungen und Schmerzen, die Diskriminierungen auch in unserer Kirche verursacht haben. » Zweitens, sah Dr. Christina-Maria Bammel Grund zu viel »demütiger Dankbarkeit« und »allerhöchstem Respekt vor allen Menschen, die unter Einsatz ihrer Kraft, ihres Mutes, die unter Hinnahme furchtbarer Risiken und Rückschläge ihre Rechte und die Rechte kommender Generationen erstritten haben.«. Drittens nahm sie die Evangelische Kirche als Institution und Teil der Gesellschaft, die nach Respekt, Gewaltfreiheit und Offenheit sucht, in die Verantwortung und formulierte: “Wir dürfen uns daraus nicht zurückziehen. Nicht heute und nicht morgen. Wir sind gemahnt, gewarnt und wach.“ Sie forderte »klare Haltungen«, »gegenseitiges Empowerment« und »ideenreiche Zivilcourage« und erwähnte die »Erklärung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz zur Schuld an queeren Menschen« aus dem Jahr 2021, einem viel beachteten Bekenntnis zur Mitverantwortung der Kirche an der Diskriminierung queerer Menschen, an irrtümlichen Entscheidungen, die Verletzungen und Verwundungen verursachten. Ihr Fazit: “Hass, Stigmatisierung und Homophobie machen eine Seele kaputt. Liebe in ihrer Vielfalt dagegen tut der Seele einer ganzen Gesellschaft gut! ».

 

Vortrag von Dr. Christina-Maria Bammel, Pröbstin der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz

Der Mitarbeiter Rainer Schubert blickte in einem persönlichen Lebensbericht auf frühe Prägungen durch Eltern und Gesellschaft, die folgende Selbstverleugnung und Scham wegen seiner kaum zu unterdrückenden Homosexualität. Sein Leben bis zum späten Outing glich einer emotionalen Irrfahrt. Diese endete mit einem »Ja« zur eigenen, sexuellen Identität. 

Der Der Gleichstellungsbeauftragte David Studier verlas mit dem in einer Lobetaler Einrichtung lebenden Leistungsberechtigten Sören Wagner den Text “Traum“: “Ich träume, auch wenn alle sagen »niemals ». Ich träume und sehe auf den Einen, der aus Träumen Wirklichkeit werden ließ: Jesus. So wächst aus meinen Träumen eine neue Hoffnung und ich kann aufstehen für meine Träume.” Ein passender Übergang zur Verlegung der Stolpersteine.

Vier Männer. Vier Schicksale. Vier Morde.

Dazu trafen sich die Gäste an der 1907 errichteten Christusstatue. Die Zeremonie der Stolperstein-Verlegung begann mit dem Verlesen der Biografien von Fritz Lemme und Ernst Hirning. Jugendliche der jungen Gemeinde Lobetal hatten, angeleitet durch Pfarrerin Michaela Fröhling, in den Archiven der Hoffnungstaler Stiftung Lobetal und der Gedenkstätte Plötzensee recherchiert. Im Ergebnis waren sehr bewegende Lebensläufe entstanden, die Friedrich Bunk und Wilhelm Pienkny präsentierten. 

Demnach litten Fritz Lemme und Ernst Hirning seit ihrer Kindheit an körperlichen Beeinträchtigungen, welche ihnen eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der damaligen Gesellschaft erschwerten. Ernst Hirnings Existenz glich einer Odyssee - er war permanenten Ortswechseln ausgesetzt, wuchs in diversen Heimen und Anstalten auf. Ähnlich unstet waren die von ihm ausgeübten Tätigkeiten: Stahlflechten, Bürsten binden, Gärtnern, im Haushalt helfen, Gänse hüten, Kaninchen züchten, die Arbeit als Laufbursche, in der Spielzeug-Herstellung und zuletzt die Arbeit auf den Lobetaler Plantagen. 

Fritz Lemme hingegen lebte von 1932 bis zu seiner Verhaftung im Jahr 1941 kontinuierlich in Lobetal. Im Laufe der »Blutnächte« wurden beide im Strafgefängnis Berlin-Plötzensee durch den Strang hingerichtet. Sie waren 30 bzw. 33 Jahre alt. Die Gnadengesuche von Anstaltsleiter Pastor Paul Braune blieben ohne Erfolg. Neben beide Stolpersteine wurde jeweils eine weiße Rose niedergelegt. 

Am Haus Gnadental fand das Gedenken für Friedrich Paul Riemann statt. Hier verlas Anna-Lätizia Dehn seine Biografie. Daneben das Porträtfoto präsentiert auf einer Staffelei. Fritz - so wurde er damals von allen genannt - wuchs relativ privilegiert auf, bis auch für ihn eine frühe Erkrankung eine Zäsur setzte. Trotz einer Gehbehinderung zog er voll Enthusiasmus in den 1. Weltkrieg und gab seine ursprüngliche Intention, Pianist zu werden, auf. Aus dem Krieg kehrte er gebrochen zurück. Er war suizidgefährdet, wurde Opfer sexuellen Missbrauchs und empfand es als kleinen Lichtblick, in den Hoffnungstaler Anstalten Lobetal mit offenen Armen aufgenommen worden zu sein. Seine Neigung, gelegentlich Kleider zu tragen, Cremes und Puder aufzulegen wurde nicht von vielen als selbstverständlich aufgenommen. Nach dem Tod seiner Eltern und mit Erbschaftsproblemen einhergehenden Geldsorgen versuchte er ein eigenständiges Leben außerhalb von Lobetal. Nachdem dies wegen der harten Bedingungen scheiterte, kehrte er dankbar und mit dem Wissen, akzeptiert zu werden, zurück. Insgesamt verbrachte er 12 Jahre in Lobetal. Nach seiner Verhaftung und einem Jahr Einzelhaft wurde er am 13. Juli 1943 zum Tode durch den Strang verurteilt. Im Alter von 46 Jahren endete sein viel zu kurzes Leben.

Hans Heinrich Festersen lebte in Alt-Lobetal. Dort fand die letzten Station der Verlegung der Stolpersteine statt. Hier verlas Pfarrerin Michaela Fröhling die Biografie Festersens. Er musste als Kind mit einer Gehbehinderung leben. Er lernte früh das Klavierspiel und konnte sich bis zu seinem 22. Lebensjahr als Klavierstimmer am Einkommen der Familie beteiligen. Seine Beeinträchtigung, seine homoerotische Identität und die jüdische Mutter führten immer wieder zu drastischen Beleidigungen und einer nur schwer zu verkraftenden Ausgrenzung. Die Einsamkeit war unerträglich und Selbstmordgedanken häuften sich. 

Bei all der Düsternis und den Härten seines Lebens waren ihm das wunderbare Koffergrammophon und seine Lieblings-Schallplatten ein Lichtblick. Nach einer langen Phase der »Wanderung« durch diverse Anstalten kam er wieder nach Lobetal, wo er erneut Aufnahme fand und dann wegen »widernatürlicher Unzucht« im Jahr 1942 verhaftet wurde. In der Nacht zum 8. September 1943 wurde er in Plötzensee erhängt. Der Stolperstein erinnert daran. 

Die Info-Tafeln zu den Stolpersteinen

 „Zogen einst fünf wilde Schwäne.“  Daniel Pienkny an der Gitarre und Katja Möhlhenrich-Krüger an der Violine fanden auch zum Abschluss den richtigen Ton und die passende Melodie. Das Gedenken von Andrea Wagner-Pinggéra klang nach: “Und so verneigen wir uns vor Hans Heinrich Festersen, Ernst Hirning, Fritz Lemme und Friedrich Riemann, um ihrer zu gedenken. Ihrer selbst und der vielen, die in den Plötzenseer Blutnächten von den Schergen des NS-Regimes ermordet wurden.“  

Text und Foto: Kai Bienert