Zehn Jahre Therapeutische Wohngemeinschaft (TWG): Mitten im Leben und gleichzeitig eine Oase
Das Haus ist unscheinbar. Die Fassade in die Jahre gekommen. Die Rollläden mit Graffiti besprüht. Martin Fuchs, Leiter der Therapeutischen Wohngemeinschaft in Berlin-Mitte, bezog gleich zu Beginn darauf: „Dieses Haus ist pures Understatement: etwas unscheinbar, mit einer schlichten, zeitlosen Fassade. Aber es steckt so viel drin in diesem Haus, soviel dahinter. Dieses Haus, dieser Campus bietet viele Möglichkeiten. Ich kann Ankommen, das große schwere langsame Metalltor hinter mir schließen: Schotten dicht, Rückzug.“
Vor über 30 Jahren stand das Haus an der Grenze zwischen Westberlin und Ostberlin. Für Martin Fuchs ist das Gebäude eine Grenzgängerin, die sich hier schützend, mit breiter Brust, bzw. mit breitem Giebel, vor die Jugendlichen stellt. „Dieser Innenhof ist Sinnbild für das, was die TWG ausmacht: Wir sind hier mittendrin im Leben, aber beschützt.“
Mensch sein
Theologische Geschäftsführerin Melanie Beiner würdigte in ihrem Grußwort das Engagement der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. „Wir feiern zehn Jahre Jubiläum. Das zeigt: Der Ansatz war erfolgreich. Und das ist Ihr Verdienst. Sie begleiten junge Menschen, damit diese ihr Leben selbstständig und eigenverantwortlich führen können. Sie unterstützen dabei, begleiten, dass diese ihre eigenen Fähigkeiten entdecken und entfalten.“ Dafür brauche es den Blick, dass jeder Mensch einzigartig ist. Das sei, was die Mitarbeitenden auszeichnet. „Sie schauen genau auf das, was jede und jeder Einzelne braucht, um Mensch sein zu können.“
Wir wollten freier und inspirierter arbeiten
Joachim Rebele, Bereichsleiter Teilhabe, war hier Mann der ersten Stunde und erinnerte an die Anfänge. 2015 gab es bereits sieben Jahre die stationäre Jugendhilfeeinrichtung Wendepunkt in Rüdnitz. Im Team spürte er eine Stimmung der Veränderung. Ein Teil der Kolleginnen und Kollegen wollten mit anderen Konzepten die jungen Menschen begleiten, irgendwie sollte es ein anderer Geist sein: freier und inspirierter. Die Jugendlichen sollten ihr Leben eigenverantwortlich gestalten, mitbestimmen können. Die Kolleginnen und Kollegen und mit ihnen die Jugendlichen träumten von einem solchen Ort in Berlin, von einer therapeutischen Arbeit auf Augenhöhe.
Da passte es gut, dass zu der Zeit in dem ehemaligen Ärztehaus Räume zur Verfügung standen. Im Erdgeschoss befand sich eine Arztpraxis, die Methadon ausgab, im ersten Stockwerk ein Diabetes-Laden und darüber das ambulante Lazarus Hospiz. Zunächst zog im Erdgeschoss die Koordination der Erziehungsstellen ein. Bald folgte eine Therapeutische Wohngemeinschaft für vier junge Menschen im 1. OG, schließlich konnten auch die Räume des Hospizes genutzt werden, nachdem dieses sich vergrößerte.
Begegnung auf Augenhöhe
Und heute? Die TWG hat die Kultur der Ehrlichkeit und der Partizipation im Umgang miteinander etabliert. „Hier hat Niemand recht. Hier haben alle recht. Hier ist niemand schlauer. Hier sind alle schlau. Hier begegnen sich alle auf Augenhöhe.“ Für Joachim Rebele der Beweis: „Alles richtig gemacht. Nicht immer – aber insgesamt.“
Mir war wichtig: selbstständig leben
Einer der sieben WG-Bewohnenden ist Marcel Mania. Er wohnt hier er seit kurzem und hat sich für die Feier schick gemacht. Zuvor war 18 Monate das Haus TrauDich in Lobetal seine Heimat. Warum er hierher wollte? „Mir war wichtig, dass ich selbstständig leben kann. Für ihn ist der Ort ideal. Hier kann ich meinen Tag eigenständig gestalten, bin aber nicht mir selbst überlassen. Eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter ist bei Bedarf immer erreichbar“, erzählt Marcel. Dass er viel im Gepäck hat, darüber spricht er nicht. Aber es ist bereits die vierte Einrichtung der Jugendhilfe, die ihn begleitet.
Doch das ist Vergangenheit. Er blickt nach vorne. Zunächst möchte er eine Ausbildung als Einzelhandelskaufmann beginnen, Bewerbungen bei REWE laufen. „Ein Beruf, der ihm Sicherheit gibt, auch für spätere Zeiten.“ Sein Traumberuf ist allerdings S-Bahnfahrer. Aber das kann er später immer noch werden.
Die Wochenenden verbringt er auf dem Fußballplatz. Er pfeift als Schiedsrichter Spiele der Kreisklasse. Sein Plan: Er möchte sich Klasse um Klasse hocharbeiten. Vielleicht schafft er es, Spiele der Regionalliga oder sogar der Bundesliga zu pfeifen. Das wäre für ihn sogar wichtiger als sein Traumjob bei der S-Bahn.